Meike Stewen

Welten hinter Wörtern

Über Meike Stewen

Meike Stewen, geboren 1970, liebt die fremden Stimmen in Bussen und Cafés und die eigenen Stimmen im Kopf. Da zu sitzen und zu lauschen und dabei zu stricken: Pullis und Chamäleons aus Wolle. Oder dabei zu schreiben: Kurzgeschichten und Romanfetzen aus Wörtern. Am liebsten bei einem Milchkaffee mit Vanillearoma. Ihr Geld für Vanillekaffee, Wolle und Stricknadeln verdient sie als Texterin, Übersetzerin und Redakteurin für eine Teppich-Fachzeitschrift, in der es zum Glück auch sehr oft um Wolle geht. Sie lebt in Hamburg. Bisherige Veröffentlichungen: Kurzgeschichten in verschiedenen Anthologien.


Leseproben

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„Papa“, sage ich abends zu Hause. „Wie genau ist sie eigentlich gestorben, damals? Meine Mutter?“
Ich verschlucke mich an meiner Stimme. Draußen donnert ein Lkw vorbei, der Luftzug schlägt den Rollogriff gegen die Scheibe. Die richtige Antwort auf meine Frage hätte „Wie bitte?“ gelautet.
Aber Papa sagt gar nichts. Er ist bei der Spätschicht und kommt nicht vor elf nach Hause.

Aus: „Salzwasser“ (Kurzgeschichte, unveröffentlicht)

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Durch zwei Schichten Baumwolle, Gänsefedern, Schweiß, Speichel, Milbenkot und ihre Finger hört Mascha Pauli ausziehen.
Manche Leute nehmen einfach ihren Hut und gehen. Pauli nicht. Pauli schmeißt auf dem Weg nach draußen den Garderobenständer um.
Krach.
Damit ich sie auch höre, denkt Mascha. Dabei hat Mascha längst alles genau so kommen und Pauli längst gehen sehen. Weil Pauli es ihr unter die Nase gehalten hat wie die Leute ihr morgens die U-Bahn-Lektüre. Und Mascha hat in Pauli gelesen wie in einer Bildzeitung, die auch nicht viele Worte macht, sondern stattdessen Fotos zeigt. Das von dem bärtigen Mann zum Beispiel, der irgendwo im Irak in einem Erdloch gesessen und ausgesehen hat, als hätte er Angst davor, sterben zu müssen. Die hätte ich auch, hat Mascha gedacht und sich in einen Kokon gewickelt aus Baumwolle und Gänsefedern, aus feuchtem Atem und Schlaf.
Natürlich liest Pauli keine Bildzeitung. Auch nicht das Abendblatt, ogottnee, das ist ja fast genauso schlimm, aber auf einmal hat sie es doch in die Wohnung getragen, bündelweise. Auf dem Küchenfußboden hat sie die Zeitungen ausgebreitet – den Wirtschaftsteil, die Sportnachrichten, das Fernsehprogramm und wieder den Mann in dem Erdloch, der Mascha zwischen Paulis halb oder ganz oder gar nicht eingewickelten Tassen und Tellern entgegengeblickt hat. Erschrocken und müde, als würde er denken: Huch? Und sich fragen, wie das alles hatte passieren können.
Ich weiß doch auch nicht, was los ist, hat Mascha gesagt.
Ich schon, hat Pauli gesagt. Du bist krank, bist du nämlich.
Vielleicht, hat Mascha gesagt. Ja. Jajajaja. Aber es ist nicht ansteckend.
Doch, hat Pauli gesagt und weiter ihre Tassen aus Maschas Schrank geholt, die Tassen eingewickelt, in Kartons gesteckt und die Kartons im Flur gestapelt, bis zur Decke, eine wackelige Angelegenheit. Am schrumpfenden Turm konnte Mascha dann abzählen, wie viel Pauli noch bei ihr war: … fünf … vier … drei … zwei … eins. Reisende soll man nicht aufhalten, denkt Mascha. Und was hätte sie auch sagen können?
Geh nicht weg, hätte sie sagen können. Bleib doch einfach hier.
Bitte.
Ich kann dir alles erklären, hätte sie sagen können. Die ganze Geschichte von vorn bis hinten oder auch von der Mitte aus, ganz wie du magst.

Aus: Der ungefähre Arsch (Romanprojekt), Prolog: „Saddam“

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Kaltz gibt ab an Breitner, Breitner an Magath, Magath an Littbarski. Und wenn man etwas wirklich will, ja dann kriegt man es vielleicht sogar. Der Toni steht im Tor und will halt einfach nur gewinnen. Ihm läuft jetzt schon die Soße, in Spanien ist es heißer als hier.
"Wie steht's?", fragt Papa.
"Immer noch eins-eins", sage ich in den Hörer. "Aber die Franzosen sind ziemlich gut. Wann kommst du?"
"Ich fahre sofort los."
Ich drücke die Glastür in den kaputten Rahmen und setze mich wieder in den Fernsehsessel. Halbfinale: Es ist Nacht in Sevilla. Der Toni trägt Vokuhila und Pornobalken, acht Jahre schlechten Geschmacks hat Deutschland noch vor sich. Helmut Schmidt ist Kanzler, aber nicht mehr lange. Was für ein Scheißjahrzehnt zum Pubertieren.

Aus: „Live ist nicht immer lustig“ (Kurzgeschichte), veröffentlicht in der Anthologie "Herzklopfen und andere Lebenszeichen"


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